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Johannes Gutenberg Universität

Institut für Ethnologie und Afrikastudien

„Forschungsexkursion Südäthiopien“

SS 2002 / WS 2002/03

Leitung: Susanne Epple

„Ergebnisbericht: Forschungsexkursion Südäthiopien“

Konrad Licht 3.3.2003

Ergebnisbericht: Forschungsexkursion Südäthiopien

von Konrad Licht

Einleitung

In vorliegender Arbeit berichte ich über eine Dassanetch – Familie, die mich für die Dauer von fünf Wochen an ihrem Leben hat teilhaben lassen. Ich beschreibe Nyabba und seine beiden Frauen Nakwa und Kidoa und einige ihrer Kinder. Die Abhandlung stellt eine Momentaufnahme dar: Es werden konkrete Menschen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit beschrieben. Hierbei habe ich mich auf Mitglieder meiner Gastfamilie beschränkt, da sie es ist, die mir während meines Aufenthaltes am vertrautesten wurde. Ich verbrachte die meiste Zeit mit ihr und machte daher nahezu alle meine Beobachtungen bei ihnen.

Im Rahmen einer Exkursion des Instituts für Ethnologie und Afrikastudien an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz unter der Leitung von Susanne Epple bereisten sieben Studenten verschiedene ethnische Gruppen Südäthiopiens. Eines der Ziele war es, Vertreter der jeweiligen ethnischen Gruppe zu einem interkulturellen Workshop einzuladen. Bei diesem Workshop sollte vor allem Frauen der Region die Möglichkeit geboten werden, Kontakte mit Frauen der anderen ethnischen Gruppen zu knüpfen und sich gegenseitig darüber auszutauschen, was es in der jeweiligen Gruppe bedeutet, eine Frau zu sein. Nähere Informationen zu diesem Workshop finden sich unter http://www.uni- mainz.de/Organisationen/SORC/conferences/ws2002/index.html.

Während der Vorbereitungsphase der Exkursion ergab es sich, dass ich gemeinsam mit meiner Kommilitonin Peggy Elfmann nach Dassanetch reisen wollte. Im August 2002 flogen wir nach Addis Abeba, der Hauptstadt Äthiopiens. Hiervon ausgehend konnten wir mit dem Toyota – Geländewagen des South Omo Research Centers (SORC) weiterfahren. Der Fahrer des SORC fuhr mit uns nach Dassanetch. Die Fahrt dahin dauerte von Addis Abeba aus drei Tage. In dem Dorf Aoga verbrachten wir die folgenden fünf Wochen mit unserer Gastfamilie. Im Anschluss daran luden wir drei Mitglieder unserer Familie und eine Bekannte ein, uns nach Jinka zu begleiten, um dort bei dem Workshop mitzuwirken. Ungefähr zwei Wochen später besuchte ich unsere Gastfamilie erneut für wenige Tage.

Die vorliegende Arbeit basiert vor allem auf dem fünfwöchigen Feldaufenthalt, und außerdem auf den Ergebnissen des Workshops sowie zwei kurzen Besuchen. Während der gesamten Zeit war es notwendig, mit Übersetzern zu arbeiten. Da die Arbeit mit Übersetzer sich auf die Ergebnisse auswirken kann, versuche ich, in der vorliegenden diesen und andere Forschungsumstände transparent zu machen. Bevor ich mit der Darstellung meiner Gastgeber beginne, stelle ich in Kapitel 1 die Lebensweise und den Lebensraum der Dassanetch dar. Die Forschungsumstände werden in Kapitel 2 beschrieben. Kapitel 3 beschäftigt sich dann mit meinen Gasteltern, Kapitel 4 mit meinen Gastgeschwistern. In Kapitel 5 versuche ich einige Schlußfolgerungen aus dem zuvor Gesagten zu ziehen.

 

1. Das Dassanetchland
1.1 Wissenschaftliche Einordnung

Die Dassanetch leben im Südwesten Äthiopiens und im Norden Kenias. Das von den Dassanetch besiedelte Gebiet umschließt das nördliche Ufer und Teile des östlichen Ufers des Lake Turkana. Zudem fließt der Fluss Omo durch ihr Land. Im Westen grenzt ihr Gebiet an den Sudan. Im Norden grenzen die Dassanetch an das Gebiet der Nachbarethnie Nyangatom, im Osten an das Gebiet der Hamar (siehe Karte). Der Ethnologe Uri Almagor schätze die Größe des Gebietes auf 2300 km21. Der Linguist Mauro Tosco schätzte die Anzahl der dort lebenden Dassanetch im Jahre 2001 mit 35.000 bis 40.000.2

Die Dassanetch betreiben sowohl Viehzucht, Ackerbau als auch Fischfang. Die Erträge der Landwirtschaft sind relativ stabil, da durch die Lage Am Omo permanent Wasser vorrätig ist. Vor allem Hirse und Mais werden angebaut.

Die Dassanetch sind unterteilt in acht geographisch abgegrenzte sections. Als „subdivisions of sections“ bezeichnet Tosco die clans, die nicht geographisch unterteilt sind und im Leben der Dassanetch bedeutsamer als die sections sind3. Für eine ausführlichere Darstellung verweise ich auf Almagor (1978), wo sich auch Beschreibungen zu age-groups und generation-sets befinden.

Neben ihrer Eigenbezeichnung Dassanetch (auch Dhaasanac, Dasanech, Daasanech) tauchen in der Literatur unter anderem auch folgende Bezeichnungen auf: Geleba (viele Nachbarethnien bezeichnen sie so, auch Gheleba, Gelubba, Geleb, Galeb, Galab), Merille (die Turkana bezeichnen sie so, auch Marille, Merelle, Marle, Marli), und Reshiat (auch Rechiat, Rachiat, Rusia). Viele Kenianer meinen mit der Bezeichnung Shankilla (auch Shanquilla) die Dassanetch während von zentraläthiopischer Seite dieser Name für mehrere ethnische Gruppen des Südens steht.4 Zu der wenig verfügbaren Literatur verweise ich auf die kommentierten Angaben von Tosco (2001, S.5-7).

1.2 Die Umgebung

Aoga, das Dorf in dem meine Gastfamilie lebt, liegt ungefähr vier Kilometer Flussabwärts von Omorate, welche die größte Stadt im Land der Dassanetch auf äthiopischer Seite ist. Im Vergleich zu anderen Städten (Turmi, Dimeka in Hamar) in der Region schien mir Omorate eine Großstadt zu sein. Neben zwei Hotels mit Billardtisch und einem Kinoraum gibt es auch regelmäßig abends Elektrizität und ein solarbetriebenes Satellitentelefon. Zu Fuß erreicht man Omorate von Aoga aus in etwa einer halben Stunde. Diese örtliche Nähe zu einer Stadt führte dazu, dass vor allem die Männer des Dorfes regelmäßig abends verschiedene Lokalitäten aufsuchten und nachts betrunken zurückkehrten.

Aoga liegt nahe am Omo Fluss, der ein ganzjährig wasserführender Fluss ist. Aus diesem Grund kommt ihm eine zentrale Bedeutung im Land und Leben der Dassanetch zu. Er ist die Lebensader, die durch das ansonsten trockene Land fließt. Entlang des Ufers wachsen Sträucher, Bäume und teilweise urwalddichte Wälder. Nur einige Meter weiter findet man nur noch vereinzelt Pflanzen. Die Vegetation scheint nicht gegen die Hitze der Sonne anzukommen. Dementsprechend sind die Bewohner des Landes abhängig vom Wasser des Omos. Von kilometerweit entfernten Dörfern sah ich Frauen kommen, um ihr Wasser dort zu holen. Aoga war das am nächsten zum Fluß gelegene Dorf in der näheren Umgebung. Nur Omorate hat sich noch weiter, bis an das Flußufer heran entwickelt.

Der Wasserstand des Omos ist von den Regenzeiten im Norden des Landes abhängig. Wenn der Fluss nach Erreichen des höchsten Wasserstandes wieder weniger Wasser führt, befindet sich nährstoffreiche Erde am Flussufer. Diese Zeit nutzen viele Dassanetchfamilien, um hier Feldbau zu betreiben. Als ich nach einer dreiwöchigen Pause nach Aoga zurückkehrte, hatten die Bewohner Aogas an einem großen Teil des Flussufers Hirse angepflanzt. Der Hauptteil der Felder Aogas befindet sich jedoch weiter südlich, in der Nähe des Flussdeltas. Nach einem Fußmarsch von ca. zwei Stunden erreichen die Bewohner aus Aoga ihre Felder. Es handelt sich um Feldanlagen von unüberschaubarer Größe. Aus vielen Teilen des less dassanetch (Land der Dassanetch) bauen die Menschen hier ihr Getreide an, vor allem Hirse. Nur vereinzelt sah ich kleine Maisfelder. Teilweise leben einzelne Mitglieder einer Familie vorübergehend in den Feldern, um sie zu pflegen und zu bewachen. Während unseres Aufenthaltes verbrachte vor allem Loichama, der älteste Sohn Nyabbas, die meiste Zeit im Feld.

2. Umstände der Feldforschung
2.1 Arbeit mit Oscar Ode (ca.15 Jahre) als Übersetzer

Gemeinsam mit meiner Kommilitonin Peggy Elfmann lebte ich für fünf Wochen wenige Meter abseits von Aoga. Vor unserer Ankunft kannten wir niemanden in Aoga. Zusammen mit einem Englischlehrer aus Omorate und dem Fahrer des South Omo Research Centers besuchten wir am 18.8.2002 erstmalig Aoga. Wir baten den Englischlehrer, uns in ein Dorf zu bringen und uns kurz vorzustellen. Wir gingen davon aus, dass wir uns mehrere Dörfer anschauen würden, doch Nyabba empfing uns mit solcher Herzlichkeit, dass wir nicht weiter suchen wollten. Nur zwei Tage später bauten wir unser Zelt unweit des Dorfes unter einem Schattenbaum auf. Noch am selben Tag erschien Oscar Ode, ein Schüler aus Ilerit, Kenia, bei uns. In Omorate hatte sich schnell herum gesprochen, dass zwei Ethnologen in der Region sind, und so bot sich Oscar uns als Assistent an. Anfangs hatten wir uns gegen die Arbeit mit einem Übersetzer entschieden, da wir schnellstmöglich die Sprache lernen wollten, um einen engen Kontakt zu den Dassanetch zu bekommen. Als wir dann im Dorf waren, fühlten wir uns aber recht bald hilflos, da wir kaum kommunizieren konnten. Und genauso ging es anscheinend den Dorfbewohnern, denn unsere Gastgeber drängten uns dazu, Oscar als Übersetzer zu engagieren. In mein Tagebuch notierte ich am Ende des ersten Tages:

20.8.2002 Was war das für ein erster Tag! Wie wurden wir angenommen! Wie wurden wir willkommen geheißen! Welch Glück auf diesem Fleckchen Erde gelandet zu sein. Nyabba sprach schon davon, unser Vater zu sein. Er will uns erzählen von seiner Familie, der Geschichte der Dassanetch. Der Tag verlief so: Wir kamen an, bauten unser Zelt auf und stellten unsere Sachen rein. Peggy kochte Kaffee und war darüber schockiert, das sie solch braunes Wasser benutzen soll. Zeitweise war sie echt verzweifelt. Wir stellten schnell fest, dass unsere Filter nichts brachten. Dann kam (wie ein Engel der geschickt wurde) Oscar. Er bot sich als Assistent an. Zuerst wussten wir nicht, ob wir mit einem Übersetzer arbeiten wollten oder nicht. Aber es waren die Dassanetch die uns dazu drängten. Und wieso sollten wir deren Wünsche nicht respektieren?

 

Rückblickend verlief die Arbeit mit Oscar gut. In meinen Tagebuchaufzeichnungen erscheinen jedoch stellenweise regelrechte Wutausbrüche. Ich drohte ihm mehrmals an, sein Arbeitsverhältnis fristlos zu kündigen. Folgende Punkte verliefen in unserer Zusammenarbeit problematisch: In Gesprächen mit Männern zeigte er sich motiviert, wollten wir aber mit Frauen und Kindern sprechen, übersetzte er Aussagen plötzlich nur noch in Bruchstücken, hinzu kam oft noch ein aggressiver Ton. Kindern nahm er oft ihre Gegenstände weg, sobald wir Interesse dafür zeigten. Oscar wollte uns den Gegenstand persönlich erklären. Dieses Verhalten spiegelt das Verhalten anderer junger Männer in Aoga wieder, die ebenfalls oft in einem aggressiven Ton mit Kindern und Frauen kommunizierten. Nachdem wir Oscar mehrmals erklärt hatten, dass er sich diesbezüglich ändern müsste, stellte er dieses Verhalten ein. Insgesamt aber war uns Oscar eine große Hilfe. Ohne ihn hätten wir nur Bruchteile von dem erfahren, was wir an Informationen sammeln konnten. Unsere Gastfamilie gewöhnte sich glücklicherweise schnell an Oscar und nannte ihn „Ongades Mund und Ohr“.

2.2 Alltag im Feld

Jeden Morgen kurz nach Sonnenaufgang tranken wir Kaffee in einem der beiden Häuser unserer Gastfamilie. Dies dauerte meistens ein bis zwei Stunden. Währenddessen sprachen wir mit Nyabba, während er im Anschluss oft das Dorf verließ, um nach Omorate zu gehen. Unser Tagesablauf wurde vor allem durch die Aktivitäten unserer Gastmütter geprägt. Je nachdem, wieviel Zeit und Lust sie hatten, verbrachten wir die Stunden mit ihnen. Mit beiden führten wir häufig Interviews, welche wir per Videokamera und Minidiskaufnahmegeräten aufzeichneten. Zusätzlich hielten wir einen Großteil der Beobachtungen in Tagebüchern fest. Ich benutzte als Tagebuch hauptsächlich ein Diktiergerät. Den Rest des Tages beschäftigte ich mich mit unseren Gastgeschwistern und mit deren Freunden. Vor allem deren Verhalten untereinander wurde ein wesentlicher Bestandteil meiner Videoaufzeichnungen.

Während Peggy gelegentlich half, den Haushalt bei Nakwa und Kidoa zu führen, half ich Nyabba bei der Pflege der Ziegen. Jeden Abend melkten wir gemeinsam mit einer oder beiden Gastmüttern die Ziegen. Danach war der Arbeitstag meistens beendet und wir kümmerten uns um unseren eigenen Haushalt: Dies bedeutete vor allem, Dreck und Tiere aus dem Zelt zu entfernen. Da das Dorf aus mehr als 30 Häusern bestand, konnte ich nicht zu allen Dorfbewohnern eine gleich enge Beziehung aufbauen. Zwei Häuser möchte ich dennoch zusätzlich hervorheben: Von Anfang an bestand auch enger Kontakt zu Llotte, welche wenige Meter entfernt wohnte, da sie drei Tage vor unserer Ankunft Zwillinge auf die Welt gebracht. Die beiden Jungen wurden nach uns benannt: Der erstgeborene wurde Ongade, der zweitgeborene Peggy genannt. Den meisten Dorfbewohnern war es untersagt, Llottes Haus zu betreten, da die beiden Babys noch so klein waren. Llotte erklärte mir, dass sie wünscht, dass wir sie jeden Tag besuchen, da wir die Namensgeber der beiden Kinder seien. Mit Llotte redete ich viel über Geburt, Muttersein und die Probleme die sich daraus ergeben.

Nach einigen Wochen wurde ich mit Ellele vertrauter. Sie ist eine alte Frau, die mit ihren lebhaften Erzählungen besondere Qualitäten offenbarte. Einmal erzählte sie mir eine Stunde lang unzählige Passagen der Bibel. Kurz zuvor hat sie an einem missionarischen Vortag in Omorate teilgenommen. Auf die Frage, ob sie daran glaube, lachte sie und sagte, dass das nur Unfug sei, den ihr die Ferenjis6 in Omorate beibringen wollten. Aufgrund ihrer charismatischen Art verbrachte ich besonders während der letzten Wochen viel Zeit mit ihr. Zudem kannte ich ihre beiden im Dorf lebenden Söhne bereits gut, da sie mich oft an unserem Zelt besuchten. Leider kann ich weder auf Llotte noch Ellele in dieser Arbeit näher eingehen, da dies den Rahmen schnell sprengen würde.

Neben den Aufenthalten bei den oben erwähnten Häusern, verbrachte ich viel Zeit unter unserem Schattenbaum. Auch hier war ich jedoch so gut wie nie allein. Vor allem Männer und Kinder ruhten sich hier aus oder spielten. Hier wurden unsere Rollen oft vertauscht: Jetzt war ich derjenige, der die Fragen der anderen beantworten sollte.

Neben dem Aufenthalt in Aoga selbst folgten wir unseren Gastgebern auf ihren Wegen: wir gingen mit zu den Feldern, nach Omorate, zu Freunden in Nachbardörfern und zu den Plantagen entlang des Flusses.

2.3 Praktische Probleme des Aufenthaltes

 

2.3.1 Unterkunft

 

Aufgrund der mir ungewohnten Hitze stellte ich das Zelt unter einen Baum. Es war einer der beiden in der näheren Umgebung stehenden Bäume. Ursprünglich hatte Nyabba vorgeschlagen, das Zelt direkt neben seinem Haus aufzustellen. Im Nachhinein hätte ich wohl besser auf ihn gehört, aber ich dachte es wäre besser für unsere technische Ausrüstung, wenn wir im Schatten blieben. Das Zelt war somit ungefähr 50 Meter von dem Dorf entfernt. In unmittelbarer Nähe wuchsen ein paar Sträucher und Büsche. Schnell merkte ich, dass es nachts vor und unter dem Zelt von riesigen Käfern, noch größeren Spinnen und enorm vielen Skorpionen wimmelte. Dies war der Grund, warum Nyabba mich gewarnt hat. Im Dorf selber gab es so gut wie keine Skorpione. „Das ist so, weil du im Busch wohnst“ sagte Nyabba, als ich von den Skorpionen berichtete.

 

Alle Häuser des Dorfes hatten ihren Hauseingang in Flussrichtung, was der Richtung unseres Zeltes entsprach. Am Tag der Ankunft baute ich das Zelt so auf, dass der Eingang in Richtung des Dorfes zeigte. Schon wenige Stunden später fand ich jedoch heraus, dass es einen guten Grund gibt, warum alle Hauseingänge in die andere Richtung zeigen: Aus östlicher Richtung wehte tagsüber ein Wind, der den Staub des trockenen Landes mit sich führte. Binnen weniger Stunden war der Zeltreißverschluss derart verstaubt, dass er sich nur noch mit Gewalt öffnen und dann nicht mehr schließen ließ. Die Folge war eine permanent verstaubte Ausrüstung und immer wieder Sichtprobleme. Am nächsten Tag drehte ich das Zelt um, woraufhin mich einige Dorfbewohner beglückwünschten. Sie lachten darüber, dass ich es nicht gleich so gemacht hatte. Ich hatte anfangs gedacht, dass es besser sei, das Zelt nicht von dem Dorf abzuwenden, denn ich wollte den Kontakt durch eine Abwendung vom Dorf nicht zusätzlich erschweren.

2.3.2 Nahrungsversorgung

Neben dem Wind stellte mich die Ernährung vor die größten Schwierigkeiten. Ich konnte mich nicht vollends an die Nahrung der Dassanetch gewöhnen. In der Regel aßen meine Gastgeber zwei Gerichte: rubba, gekochte ungewürzte Hirse und nyado, zermahlene, gekochte, ungewürzte Hirse. Mein Magen konnte sich auf diese einseitige Ernährung nicht einstellen. Eine echte Bereicherung waren die auf dem

 

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Markt in Omorate und in der nahen Missionsfarm erhältlichen Mangos und Papayas. Wirklich zu schätzen lernte ich die zehn mitgebrachten Tütensuppen. Zum Glück gab es manchmal süße, rohe Hirse. Weitere Höhepunkte auf dem Speiseplan waren ein Fisch, fünf gekochte Eier sowie zwei geröstete Maiskolben.

Das Trinkwasser lieferte der nahe gelegene Fluss Omo. Gereinigt wurde das Wasser mit dem wuluf, eine Wurzel eines speziellen Baumes. Rührt man das Wasser damit, sammelt sich die Erde am Boden des Topfes. Die meiste Flüssigkeit nahm ich allerdings durch den Kaffee bei meinen Gastgebern zu mir.

3. Porträt Nyabbas und seiner beiden Ehefrauen

In den nun folgenden Teilen 3 und 4 möchte ich einige Mitglieder meiner Gastfamilie vorstellen. Die Familie umfasst folgende Individuen:

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4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

geschätztes Alter

1 Nyabba 40-45 2 Nakwa 30-35 3 Kidoa 23-27

Kinder Nakwas

4 Orib
5 Loichama 15 6 Yendite 12 7 Kolochon 10 8 Lomachol 9 9 Willie 7 10 Ankoi 5 11 Arba Nech 2

Kinder Kidoas

12 Noicho 3 13 Nakwa tini 1/2

Orib, die älteste Tochter Nakwas, bleibt im Folgenden unbesprochen, da ich sie nicht kennen gelernt habe. Sie ist bereits verheiratet und hat ihr Haus in der Nähe

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der Felder. Außerdem werde ich zudem nicht ausführlich auf Nakwa tini, Arba Nech, Ankoi und Lomachol eingehen. Ich konzentriere mich viel mehr auf Personen, deren soziale Rollen repräsentativ für bestimmte Rollen in Dassanetch zu sein scheinen. Deshalb lasse ich die vier ein wenig außen vor, da sie in meinen Augen nicht eine so deutliche Rolle erfüllen, wie es zum Beispiel die ältesten Geschwister tun.

Nyabba hatte noch eine andere Frau gehabt, die verstorben war. Unklar blieb mir, wie viele Kinder er aus dieser Ehe hat und wo sie sich aufhalten. Keiner aus der Familie schien gerne mit mir darüber reden zu wollen. Nyabbas ältester Sohn heißt jedoch Kaballe, da Nyabba den Namen von ihm bekam (I-Kaballe, Vater von Kaballe).

Die Familie lebt in zwei Häusern, die zu dem Zeitpunkt meiner Ankunft eng beieinander standen. Das eine Haus wurde von Nakwa, das andere von Kidoa bewohnt. Meistens blieben die Kinder nachts bei ihren leiblichen Müttern. Nyabba wechselte seinen Schlafort nach keinem erkennbaren Muster. Ich hatte den Eindruck, dass er häufiger bei seiner Zweitfrau übernachtete.

3.1 Nyabba (I-Kaballe) – Der Vater (ca. 40 Jahre)
3.1.1 Nyabbas Rolle in der Familie und äußeres Erscheinungsbild

Nyabba ist Vater und Ehemann. In dieser Position schien er stets oberste Autorität zu sein. Seine Kinder gehorchten ihm aufs Wort und auch seine Frauen erfüllten ihm stets seine Wünsche. Nyabba verhielt sich in meinen Augen nie ungerecht den anderen Familienmitgliedern gegenüber. Hin und wieder wies er seine Kinder an, gewisse Dinge zu unterlassen, jedoch machten diese Verbote immer Sinn.

Tagsüber saß er oft bei seinen Frauen im Haus und trank Kaffee. Dabei saß er nahezu ausnahmslos im rechten vorderen Bereich des Hauses. Ich sah Nyabba nie ein anderes Haus als das seiner Ehefrauen betreten. An manchen Tagen verließ er das Dorf um in die Stadt oder in ein benachbartes Dorf zu gehen. Immer nahm er dann seinen kara (Kopfstütze) und seinen Gehstock mit. Meistens trug er um seine Hüften ein Tuch aus bräunlichem Stoff. Seine Haare waren zu einer Tonkappe geschmückt und farblich verziert. Er trug meistens zwei kleinere Straußenfedern auf seinem Haupt. Um beide Arme trug er jeweils einen Armreifen.

3.1.2 Nyabbas Rolle in Aoga

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Nyabba galt als der Vater des Dorfes. Zu Beginn meines Aufenthaltes erwähnten andere Dorfbewohner immer wieder diese Position. Dabei nahmen sie nicht Bezug darauf, wodurch sich diese Position ausdrücke; sie nannten ihn einfach Vater des Dorfes. Fragen, die die Gemeinschaft betreffen wurden immer mit ihm abgesprochen. Dies war zum Beispiel der Fall, als der neue Weideplatz für die Gemeinschaftsherden gesucht wurde oder als beschlossen wurde, ob der Zeitpunkt gut sei, um die Hirse zu ernten.

Neben seiner Rolle als Dorfsprecher war er verantwortlich für einen großen Teil der Ziegen des Dorfes, die auch in seinem Kraal untergebracht waren. Er sorgte sich um die Gesundheit und das Wohlergehen der Tiere. Morgens brachte er die Ziegen die ersten Meter aus dem Dorf und fast jeden Abend war er es, der die Ziegen aus dem Busch nach Hause führte. Des Weiteren war er wie ein Arzt für die Ziegen. Viele Ziegen hatten Probleme an ihrem After. Er reinigte die Wunden mit Salben und Wasser oder injizierte Medizin die er aus Omorate kaufte. Dabei ließ er sich zu Beginn meines Aufenthaltes von seinen Söhnen helfen. Gegen Ende meines Aufenthaltes übernahm ich diese Aufgabe zunehmend.

Nyabba kümmerte sich auch um erkrankte Menschen. Hierbei konzentrierte er sich jedoch meines Erachtens auf seine eigene Familie. Sein Sohn Karre schien mehrere Tage lang Malaria zu haben. Nyabba kümmerte sich mit Medizin (sowohl Tabletten, die er in einer Apotheke in Omorate erstanden hatte, als auch mit einer Salbe, die aus pflanzlichen Teilen gewonnen wurde) sowie gesunder Ernährung um ihn. Außerdem war seine jüngste Tochter Nakwa tini mehrere Tage an Durchfall erkrankt. Auch um sie kümmerte er sich liebevoll und versuchte, sie durch seine Zuneigung wieder aufzubauen. Als ich erkrankte, schaute er nach mir und gab mir Hinweise, wie ich wieder genesen könnte. Vor allem warnte er mich dabei vor den von mir mitgebrachten Nahrungsergänzungen, wie Kamillentee.

3.1.3 Mein Verhältnis zu Nyabba

Oft spürte ich zwischen mir und den anderen Männern Aogas eine Art Distanz. Einmal sagte mir ein Freund Nyabbas, dass ich als der Sohn Nyabbas gelte sodaß er es wäre, der sich um mich kümmert. Nyabba war insofern wohl allein für mich verantwortlich. Diese Verantwortung nahm er stets sehr ernst. War er einmal

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tagsüber außerhalb des Dorfes, so kam er stets am Abend, um nach mir und Peggy zu schauen. Er scheute sich nicht, uns zu wecken, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Hatten wir tagsüber das Dorf verlassen, so setzte sich Nyabba unter den Schattenbaum und wachte über das Zelt.

So wie es für mich von großer Bedeutung war, eine Vaterfigur in Nyabba gefunden zu haben, so war es meiner Ansicht nach für Nyabba von großer Bedeutung in mir eine Art Kind gefunden zu haben. Es schien mir, als lege Nyabba Wert darauf, dass ich mich in seine Familie integriere. Er achtete stets darauf, dass ich mich an alltäglichen Arbeiten beteiligte. Dazu zählte vor allem das abendliche Melken der Ziegen, die ich fast jeden Abend festhielt, damit meine Gastmütter melken konnten. Ich war unter anderem dadurch nicht mehr nur der Fremde, dessen Intentionen im Verborgenen blieben. Belohnt wurde dies jeden Abend unter anderem mit einem Becher Milch. Nicht nur mir bedeutete dieses Dazugehörigkeitsgefühl viel, sondern auch Nyabba. Als ich an einem Abend nicht half, kam er nach vollendeter Arbeit persönlich zu mir mit einem vollen Becher Milch. Er sagte betont, dass es schlecht sei, dass ich nicht gekommen bin.

Jeden Morgen lud Nyabba mich in eines seiner beiden Häuser ein. Hier besprachen wir die Arbeit. Oft schlug er mir ein Tagesprogramm vor. Dadurch prägte er vor Ort meine Rolle als Forscher wie kein anderer.

3.2 Kidoa (A-Noicho, die Zweitfrau, ca. 24 Jahre) 3.2.1 Äußeres Erscheinungsbild

Kidoa trug die meiste Zeit ein Tuch, welches um ihre Hüften gewickelt wurde. Nur selten trug sie einen Rock aus Leder. Um ihren Hals hingen viele Ketten. Die meisten waren aus Plastikperlen gefertigt, andere aus größeren Holzperlen. Ihre Arme schmückten Ringe. Ihre Haare waren geflochten und wurden einige Male mit Butter und Tonerde eingerieben.

3.2.2 Kidoas Haus

Die meisten Dorfbewohner (auch die Kinder von Nakwa, sowie Nakwa selbst) nannten Kidoa A-Noicho (Mutter von Noicho)7. Sie wohnte in einem bil lokol

7 Im Gegensatz dazu ist es üblich, dass die Kinder Kidoas später Nakwa mit „Mama“ ansprechen.
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(Grashaus). Neuverheiratete Frauen beziehen zu Beginn ihrer Ehe Häuser, deren Abdichtung aus Blattwerk bestehen. Das Grundgerüst des Hauses besteht aus ilu (Stöcke für den Hausbau). Diese werden mit Blättern abgedeckt. Zudem gibt es im Vergleich zu den bil barua (Häusern aus Leder) einen Unterschied im bil gerre (Inneren des Hauses): In Kidoas Haus findet die Lagerung von Gegenständen auf einer Art Dachboden statt. Das Haus ist somit horizontal in zwei Teile geteilt. Auf dem Dachboden werden bis auf die kurrums und durrums (Milchgefäße) sowie die Töpfe, alle anderen Haushaltsgegenstände aufbewahrt. Durch diese Art der Lagerung wird das Innere des Hauses stark verkleinert. Auf die Frage, warum in einem bil lokol die Lagerung auf diese Art und Weise geschieht, während man in einem bil barua eine andere benutzt (siehe 3.3.1) antwortete Kidoa: „Das Blätterdach ist nicht dicht. Der Dachboden ist ein zweites Dach für uns.“8 Zudem sind die Dächer nicht sehr lange haltbar. Nachdem ein Haus gebaut wurde, hat es eine grüne Farbe. Nach nur wenigen Tagen welken die Blätter, sodass das Haus bräunlich wird. Als Kidoa undichte Stellen in ihrem Dach entdeckte, holte sie aus dem Busch neues Blattwerk, sodass das braune Dach vorübergehend wieder grüne Flecken bekam. Ihr bil lokol bot durch seine Beschaffenheit nur begrenzten Schutz gegen den Wind. Mit jedem Sturm der durch das Dorf wehte, wehte auch eine kleine Staubwolke in ihr Haus.

Die gesamte materielle Kultur der Dassanetch ist darauf ausgerichtet möglichst flexibel zu sein. Alle Gebrauchsgegenstände und selbst das Haus können binnen kurzer Zeit auf den Rücken von ein paar Eseln befestigt werden und dann über weite Strecken transportiert werden. Die Dassanetch wohnen (wie bereits in 1.2 erwähnt) in einem harten klimatischen Raum. Die Hitze und die Trockenheit und die daraus resultierende Armut an Vegetation zwingt die Pastoralisten mit ihren Tieren mobil zu sein. Nyabba kündigte mir an, dass er wenige Monde nach meiner Rückkehr nach Deutschland für längere Zeit auf die andere Seite des Flusses ziehen wird, da dort zu der Zeit die Tiere leichter Nahrung finden werden. Während der Zeit meines Aufenthaltes in Äthiopien veränderte Nakwa den Standpunkt ihres Hauses zweimal. Zu beiden Zeitpunkten geschah dies um an dem entfernt stattfindenden Bericho-Ritual teilzunehmen. 9 Kidoa wechselte den Standort ihres Hauses ebenfalls

8 Die Aussage ist nicht wörtlich wiedergegeben.
9 Diesem Ritual kommt im Leben der Dassanetch eine zentrale Bedeutung zu. Um alle Clanmitglieder zu diesem Fest einzuladen und entsprechende Beteiligung einzufordern, besuchten ungefähr 25 Männer Aoga. Sie informierten Nyabba und andere Männer darüber, dass sie bald mit ihrem Haus und allen Gebrauchsgegenständen auf die andere Seite des Flusses kommen müssen, um an dem Ritual teilzunehmen. Nyabba erzählte mir, dass erst nachdem er dieses Ritual durchgeführt hat, er als alter

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einmal. Leider verpasste ich den Vorgang des Abbauens jedes Mal um ein paar Stunden.10 Bei meinem dritten Besuch in Aoga, drei Wochen nach meiner Abreise, stellte ich erstaunt fest, dass der Standort des Hauses sich um ungefähr zehn Meter in das Dorfinnere verschoben hatte. Kidoa meinte, dass sie hier geschützter vor dem Wind wäre und weniger Skorpione in ihr Haus kämen. Dieser Hausumzug fiel zusammen mit einem Umzug von Nakwa, die für ca. zwei Wochen ihr Haus auf die andere Seite des Flusses brachte, um an dem Bericho-Ritual teilzunehmen. Ich vermute daher, dass es zudem eine Rolle spielte, dass Kidoa ihre Hausposition an der Dorfspitze aufgeben wollte oder musste. Zu Beginn meines Aufenthaltes erwähnte ein Dorfbewohner, dass Nyabba der Dorfvater sei. Aus diesem Grunde wohnte er, so sagte mir der Mann, an der Dorfspitze: Sein Haus stand dem Fluss am nächsten. Als Nyabba und Nakwa das Dorf verließen, war es Kidoas Haus, welches diese Position erhielt.

3.2.3 Kidoas alltägliche Arbeiten

Ein Großteil ihrer Zeit widmete Kidoa ihren Kindern. Vor allem ihre jüngste Tochter Nakwa tini beanspruchte viele Energien. Nahezu ständig trug Kidoa ihr Baby mit sich herum oder beschäftigte sich mit ihm in ihrem Haus. Zudem kümmerte sich Kidoa um die Nahrungszubereitung. Oft kochte sie nicht nur für sich und ihre leiblichen Kinder, sondern auch für die Kinder von Nakwa und für uns Ethnologen und andere Gäste. Nakwas Töchter unterstützten sie dabei im Haushalt. Nur selten musste Kidoa ihr Kind verlassen um z.B. Wasser zu holen. Diese Arbeiten erfüllten meistens die adda (unverheiratete Mädchen) der Familie.

Kidoa kümmerte sich außerdem um die Ziegen der Familie. Sie reparierte den Ziegenkral, das Haus der Zicklein und die Quarantäneeinrichtung für erkrankte Tiere. Dafür holte sie mit ihrem nyewolu (Buschmesser) Buschwerk aus der Nähe des Flusses, welches sie auf dem Kopf in das Dorf transportierte. Das nyewolu benutze sie auch um für die Verankerung Löcher in die Erde zu graben. Jeden Abend erfüllte Kidoa beim Melken der Ziegen die meiste Arbeit.

Mann gilt. Leider konnte ich zu der Zeit nicht mehr in Dassanetch sein. Er schilderte mir jedoch bei meiner Rückkehr nach Aoga das Fest. Mehrere Tage wurde getanzt und es wurden viele Ziegen geschlachtet. Männer und Frauen aus dem ganzen Dassanetchland waren anwesend. Nach ungefähr zwei Wochen brachte er mit Nakwa ihr Haus wieder nach Aoga. Seine Zweitfrau Kidoa nahm nicht an dem Fest teil. Nakwas Kinder blieben mit ihr in Aoga.

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Nur einmal sah ich Kidoa das Dorf für einen ganzen Tag verlassen. An diesem Tag ging sie auf den Markt in Omorate um dumba (Kautabak) zu verkaufen. Während dieser Zeit kümmerten sich Nakwas Töchter um ihre Kinder.

3.2.4 Kidoas Beziehung zu Nakwa

Was mich immer wieder erstaunte, war das entspannte Verhältnis der beiden Ehefrauen Nyabbas zueinander. Kidoa betonte mehrmals, wie gut es sei, dass ihr Mann zwei Frauen geheiratet hat. Sie erwähnte auf meine Fragen keinen Nachteil, Zweitfrau zu sein. Sie vertraute mir an, dass Nyabba demnächst eine dritte Frau heiraten würde. Weder Kidoa noch Nakwa sahen darin irgendwelche Nachteile für ihr Alltagsleben auf sich zukommen. Zumindest äußerten sie keine in meiner Gegenwart. Sie erwähnten stattdessen, dass sie dadurch reicher würden, denn eine dritte Frau gebärt weitere Töchter, die dann der Familie zu Brautpreiszahlungen verhelfen.

Beide Frauen unterstützen sich in ihren Arbeiten und schienen sich nicht zu streiten. Im Gegenteil: oft saßen die beiden Ehefrauen zwischen ihren Häusern und lachten miteinander. Vermutlich wegen meines eigenen kulturellen Hintergrunds und dem Film Dukas Dilemma11 erwartete ich auftretende Spannungen zwischen ihnen. Jedoch überraschten mich die beiden Frauen mit ihrer freundschaftlichen und kooperativen Umgangsweise.12

3.2.5 Kidoas Beziehung zu Nyabba

Auch zu ihrem Mann Nyabba schien Kidoa ein entspanntes Verhältnis zu haben. Beide redeten oft über die Gesundheit der Familie oder der Ziegen. Nyabba sprach mit ihr in meiner Gegenwart stets in einem freundlichen Ton. Zwar forderte Nyabba sie hin und wieder auf Kaffee zu kochen oder andere Arbeiten auszuführen, jedoch geschah dies nicht in einem harschen Ton. Die Beziehung zwischen den

10 Ich konnte jedoch den Transport und die Überquerung des Flusses mit den Gegenständen beiwohnen.
11 Ein Film von Kaira Strecker und Jean Lydall. In dem Film wird die problematische Situation dokumentiert, in der ein Mann aus Banna ein zweites Mal heiratet. Zwischen Erst- und Zweitfrau besteht vorerst ein angespanntes Verhältnis.
12 Auch Peggy Elfmann gewann den Eindruck, dass die Beziehungen zwischen Erst- und Zweitfrauen in Dassanetch enger sind, als in benachbarten Gruppen. Diesen Eindruck teilte sie mir nach

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Ehefrauen untereinander und ihrem Ehemann erschien mir überwiegend ausgeglichen und von Harmonie geprägt. Allerdings erwähnten beide Ehefrauen, dass sie verpflichtet sind, gewisse Arbeiten auszuführen, da sie ansonsten von Nyabba geschlagen werden. Dies sagten sie jedoch immer mit einem Lächeln im Gesicht.

Mich überraschte die Umgangsweise zwischen den Eheleuten. Vor meiner Reise nach Dassanetch lernte ich die Lebenswelt der Hamar kennen. Die Ethnologen Jean Lydall und Ivo Strecker vermittelten mir in Vorlesungen und in persönlichen Gesprächen unter anderem Einzelheiten über den Umgang zwischen Eheleuten in Hamar. Eine dieser Einzelheiten war das Tabu, dass Männer ihren Frauen (und umgekehrt) in der Öffentlichkeit nicht in die Augen schauen sollen. Zwischen beiden existiere eine Beziehung die sich durch distanziertes Miteinanderumgehen ausdrückt. Unüberlegt erwartete ich von meinen Gasteltern ähnliche Umgangsweisen. Da ich den sozialen Raum als öffentlich ansehe, sobald ich mich mit meinen Gasteltern aufhalte, wurde ich von dem freundlichen Umgang der Eheleute überrascht.

3.2.6 Kidoas Beziehung zu mir

Kidoa war an meiner Arbeit sehr interessiert. Ich war in ihrem Haus stets willkommen und zum Kaffeetrinken eingeladen. Sie war immer bereit, mit Geduld meine Fragen zu beantworten. Außerdem zeigte sie viel Interesse an meiner Kultur. Sie befragte mich über meine Herkunft und die Bräuche in meinem Land. Die Gespräche mit Oscar verfolgte sie und begann als Einzige des Dorfes, auch die englische Sprache zu lernen. Jeden Tag verbrachte ich mehrere Stunden in ihrem Haus, trank mit ihr Kaffee oder führte Interviews. Besonders begeistert war Kidoa darüber die aufgenommenen Audioaufnahmen zu hören. Dabei verfolgte sie das Gespräch in den Kopfhörern und deutete lachend auf diejenigen, die gerade sprachen.

3.3 Nakwa (A-Loichama, die Erstfrau, ca. 35 Jahre) 3.3.1 Äußeres Erscheinungsbild

vergleichenden Gesprächen mit Vertretern anderer ethnischen Gruppen mit. Diese Gespräche fanden auf dem erwähnten Workshop in Jinka statt.

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Nakwa trug um ihre Hüften ein kariertes Tuch. Ihre Haare waren ähnlich geflochten, wie Kidoas Haare. Um ihren Hals trug sie mehrere Ketten aus Holzperlen. Um ihre Arme trug sie viele Ringe.

3.3.2 Nakwas Haus

Im Gegensatz zu Kidoas Haus war das Haus, in dem Nakwa und ihre Kinder leben ein bil barua. Dies bedeutet, dass das Dach nicht aus Blättern, sondern aus Matten, Häuten, Hölzern und Metallen besteht. Das Haus wirkt somit optisch robuster. Im Hausinneren fällt vor allem der Unterschied der Lagerung auf. Während in Kidoas Haus die Gegenstände auf einem Dachboden aufbewahrt werden, befinden sich die Gebrauchsgegenstände bei Nakwa an den Wänden. Auf der linken und der rechten Seite sowie an der hinteren Wandseite befinden sich die nono (Lagerungshilfen). Diese Schränke sind zudem auch Tragen zur Befestigung von Objekten bei Eseltransporten. Alle Gegenstände sind hinter oder vor den nono verstaut. Auf der linken Seite befinden sich zudem die Milchgefäße auf gegabelten Stöcken. Durch diese Art der Lagerung bleibt die Raumhöhe erhalten. Auch ist das Haus von Nakwa im Grundriss größer als das von Kidoa, wodurch die Grundfläche des Raumes trotz der Lagerung an den Seiten noch mindestens genauso groß ist wie im Haus der Zweitfrau. Im Gegensatz zu Kidoas Haus, regnete es selbst bei einem heftigen Regenguss nicht durch das Dach. Es gibt auch Gemeinsamkeiten in beiden Häusern. Der Boden ist identisch aufgeteilt: Der Eingangsbereich stellt den unbedeckten Küchen- und Eintrittsbereich dar. Auf der linken Seite befindet sich die Kochstelle. Sie besteht aus drei flachen, in den Boden senkrecht eingegrabenen Steinen, welche die Feuerstelle begrenzen und auch als Abstellplatz für den Topf dienen. Dieser Eingangsbereich ist weniger als einen Meter breit und wird durch eine Metall- oder Holzstange abgegrenzt. Der Bereich dahinter, der bil gerre, ist mit Kuhhäuten ausgelegt. Auf diesen Häuten sitzen, essen und schlafen die Familienmitglieder. Der linke Bereich ist den Frauen, der rechte den Männern vorbehalten. Diese Sitzordnung wurde jedoch nicht immer eingehalten.

3.3.3 Nakwas Rolle in der Familie

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Nakwas Rolle in der Familie ist leicht beschrieben: Sie ist die organisierende Mutter und Ehefrau. Wichtige Aufgaben übernimmt sie selbst, andere verteilt sie an ihre Kinder. Arbeiten, die sie nicht aus ihren Händen gab, waren die Verarbeitung von Fischen, Ziegenmägen und -häuten. Sie ging mehrmals in das Feld, um nach der Hirse zu schauen. In der Erntezeit blieb sie mehrere Tage dort.

3.3.4 Nakwas Beziehung zu mir

Nakwa behandelte mich weniger als ihren Sohn, sondern vielmehr als einen Gast. Sie forderte mich nur selten zu etwas auf. Sie war hilfsbereit und wollte mich in meiner Arbeit unterstützen. Sie forderte auch ihre Kinder dazu auf, mir zu helfen.

Zum anderen unterstützte sie mich sehr in der Nahrungsversorgung. Unzählige Kalebassen mit Kaffee reichte sie mir. Dennoch fehlte zwischen uns die Nähe und Vertrautheit, wie ich sie mit Kidoa empfand. Dies lag wohl auch an Nakwas Alter, da sie eben eine Art Mutterrolle mir gegenüber innehatte.

4. Die Kinder
4.1 Noicho (Tochter Kidoas, ca. 2 Jahre) 4.1.1 Äußeres Erscheinungsbild

Noicho trug Ketten um den Hals, sowie Reifen an ihren Armen. Ihr einziges Kleidungsstück war ein silla (vorderer Teil des Rocks aus Leder). An einem Tag gab ihre Mutter Kidoa ihr ebenfalls einen abuni (hinterer Teil des Rocks). Dieser schien Noicho allerdings extrem zu mißfallen, denn sie bemühte sich so lange an dem abuni zu ziehen, bis sie ihn soweit lockern konnte, daß sie ihn in den Busch werfen konnte. Als ihre Mutter sah, dass Noicho ihren abuni nicht mehr trug, schimpfte sie mit ihr und lachte einen Augenblick später darüber. Am nächsten Tag schien sich Noicho an ihr neues Kleidungsstück gewöhnt zu haben. Vor allem ihre Mutter, aber auch ihre Geschwister forderten Noicho dazu auf, wie eine ordentliche Dassanetchfrau zu sitzen. Dies bedeutete, dass sie ihre Beine beim Sitzen gerade ausstrecken sollte und ein Bein über das andere Bein legen sollte. Wann immer ihre Mutter ihre Beine in die richtige Position brachte, stand Noicho allerdings auf und lief davon.

4.1.2 Verhalten in der Familie

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Noicho ist die älteste Tochter von Kidoa. Sie ist ca. zwei Jahre alt. Recht bald bemerkte ich an ihr ein für mich überraschendes Verhalten: bei jeder Gelegenheit drohte sie anderen Menschen in ihrer Umgebung Schläge an. Selbst ihre Mutter oder Nakwa blieben nicht davon verschont. Oft verwendete sie dafür Stöcke oder einen sherr (Spielzeug und Hüteinstrument der Jungen). Und fast immer sagte sie dazu leise aber so zornig wie möglich „Ash!“ was soviel wie „Hör auf!“ bedeutet. Anfangs verschonte sie mich, jedoch wollte ich herausfinden, wann sie auch mir gegenüber den Respekt verliert. Ich sprach sie in dem Haus ihrer Mutter an, sie solle mir den sherr reichen. Anfangs ignorierte sie mich. Als ich ihn mir dann schließlich selber nehmen wollte, holte sie damit aus und rief „Ash!“.

Noicho hatte gerne intensiven Kontakt mit ihren Geschwistern und liebte es sie zu umarmen. Oft lief sie vor allem Willie hinterher oder setzte sich neben ihn. Es ist durchaus denkbar, dass sie ihr abweisendes Spiel von ihm gelernt hat (weiter unten werde ich zeigen, dass Willie sich anderen gegenüber sehr oft respektlos verhielt). Sie spielte zudem gerne mit allen Gegenständen. Mit einem Kuhschädel spielte sie Hirsemahlen und mit Stöcken baute sie kleine Häuser. Sie liebte es auch ihrer Mutter beim Ziegenmelken hinterher zulaufen und lernte bereits, ihr beim Melken zu helfen.

4.2 Loichama (Nakwas ältester Sohn, ca. 15 Jahre) 4.2.1 Äußeres Erscheinungsbild

Loichama trug ein Tuch um seine Hüften. Als einziges Kind der Familie besaß er Schuhe, die aus Autoreifen gefertigt wurden sind.13 Loichamas Haare waren geflochten und unrasiert. Eine ähnliche Frisur sah ich auch bei vielen älteren Männern (bis 30 Jahre) die erst frisch verheiratet sind. Andere junge Männer trugen bereits im alter von ungefähr 17 Jahren die typischen Tonkappen.

4.2.2 Rolle in der Familie

Loichama ist der älteste Sohn Nakwas. Seinem Alter entsprechend hatte er bereits viel Verantwortung übernommen: er hielt sich ohne direkte Verwandten

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längere Zeit in den Hirsefeldern auf und kümmerte sich um die in der Nähe weidenden Kühe und Ziegen. Nachdem die Hirse geerntet wurde, kehrte er in das Dorf zurück. Für die Dauer der wenigen Tage, welche er sich im Dorf aufhielt, fiel mir ebenfalls seine große Verantwortung auf: vor allem morgens und abends sorgte er sich um die Ziegen der Familie.

4.3 Yendite (Eeneb, Nakwas älteste im Haus lebende Tochter, ca.12 Jahre) 4.3.1 Äußeres Erscheinungsbild

Yendite trug einen langen Rock. Sowohl der vorderer Teil als auch der hintere Teil reichte fast bis zu ihren Knöcheln. An ihren Armen trug sie silberne Ringe und um ihren Hals hingen vor allem blaue und weiße Ketten. Ihre Haare waren geflochten und wurden mehrmals mit Butter eingerieben. Auch ihre Haut wurde von ihrer Mutter häufiger mit Butter eingerieben.

4.3.2 Rolle in der Familie

Yendite hatte als älteste noch im Haus von Nakwa lebende Tochter eine besondere Rolle. Sie war diejenige, die die meisten Arbeiten verrichten musste. Immer wieder ging sie zum Wasserholen, passte auf die Ziegen auf, kümmerte sich um kleinere Geschwister und sorgte für Ordnung im Haushalt. Alle Arbeiten schienen für sie bestimmt zu sein. Sie wirkte oft ernst und verantwortungsbewusst. Zudem forderte sie häufig ihre kleineren Geschwister zu Gehorsam auf.

Ihre Eltern erzählten oft, dass Yendite bald heiraten werde. Bei den Dassanetch sind frühe Ehen üblich. Die älteste Tochter Nakwas, Orib, ist bereits seit einigen Jahren verheiratet. Sie ist vermutlich kaum älter als 16.14 Yendite war also in der Phase ihres Lebens in der sie intensiv auf das Dasein als Ehefrau vorbereitet wurde. Ihr wurde große Verantwortung in der Kindererziehung übertragen. Neben ihren Arbeiten im Haushalt kümmerte sie sich um die beiden kleinsten Kinder.

Als an einem Tag ihre Mutter Nakwa ins Feld gegangen war und auch Kidoa, Nyabbas Zweitfrau, für einige Zeit abwesend war, musste Yendite sich um zwei Haushalte kümmern. Die älteren Kinder brauchten zwar keine besondere Fürsorge,

13 Nach dem Besuch bei dem Workshop trug auch Yendite Schuhe, die sie von uns als Geschenk erhalten hatte.
14 Nyabba sagte, Orib sei nicht viel älter als Loichama.

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jedoch wachte Yendite über sie, damit sie keinen Schaden verursachen. Zudem kümmerte sie sich um die immer wieder weinende Nakwa tini und um den noch relativ unbeholfenen Arba Nech. Gleichzeitig kehrte sie noch die beiden Häuser und reinigte alle Gefäße. Keinen anderen Menschen in Aoga habe ich in solch kurzer Zeit derartig viele Aufgaben erfüllen sehen. Sie übernahm in Abwesenheit der beiden Ehefrauen die Rolle der beiden Mütter und kümmerte sich um den Haushalt. Als die Häuser sauber und auch die Geschwister einen Moment ruhig waren, setzte sich Yendite zwischen die beiden Häuser und kraulte das Haar von der kleinen Nakwa tini. Nach diesen Beobachtungen notierte ich folgendes in mein Tagebuch:

Was für ein kleines Mädchen! Mit welcher Souveränität sie ihre Arbeiten erledigt. Sie sorgt sich mit Liebe und Verantwortungsbewusstsein. Und sie bleibt bei allem so ruhig. Sie akzeptiert ihr Schicksal eine Frau zu werden. Zumindest ist sie ganz klar dabei zu vergessen, was es heißt ein Kind zu sein. Sie wächst in ihre soziale Rolle. So als ist das die klarste und selbstverständlichste Sache der Welt. Als gäbe es überhaupt keine anderen Möglichkeiten.

4.3.3 Ihr Wissen um ihre baldige Hochzeit

Manchmal lernte ich Yendite jedoch auch von einer anderen Seite kennen. Abends liebte sie es tanzen zu gehen. Beinahe jeden zweiten Abend trafen sich die Kinder unter dem klaren Sternenhimmel und sangen und tanzten im Mondschein. Hierbei schien Yendite wieder ein ausgelassenes Mädchen zu sein. Vielleicht kompensierte sie so die Ernsthaftigkeit des Tages. Vielleicht versuchte sie auch dadurch zu vergessen, dass sie bald heiraten würde, und dann diese Tänze abends hinter dem Dorf der Vergangenheit angehören würden. Manchmal kamen junge Männer zu den Tänzen hinzu. Dann verließen die kleinen Jungen die Tanzfläche. Die jungen Männer wollten ganz besonders gerne und oft mit Yendite tanzen. Sie schien in ihren Augen eine mögliche Liebhaberin oder vielleicht sogar eine zukünftige Ehefrau zu sein. Ich glaube, Yendite spürte das auch, denn sie wendete sich oft von den Männern ab und tanzte gezielt mit den kleinen Mädchen.

Als ich mit Yendite über den Markt in Jinka lief, hielt sie meine Hand fest.15 Später sagte sie mir, dass sie Angst hatte, dass ein Mann sie wegnehmen könnte. In Dassanetch kommt es häufig vor, dass Männer versuchen, ihre Auserwählte zu

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stehlen. Ich beobachtete ein solches Drama bei einem Spaziergang. Dieser versuchte Raub eines mir unbekannten Mädchens wurde jedoch von einem älteren Mann aus Aoga unterbunden, indem er den Räuber lautstark verjagte.

4.4 Kolochon (jüngste Tochter Nakwas, ca. 10 Jahre) 4.4.1 Äußeres Erscheinungsbild

Kolochon trug einen langen vorderen und hinteren Rock, an dem eine Glocke aus Metall angebracht war. Zusätzlich schmückte sie sich mit Ketten, Armreifen und Ohrringen. Besonders auffallend war ihre Frisur. Der hintere Bereich der Haare war zu Beginn meines Aufenthaltes relativ lang. Die Haare auf dem Vorderkopf waren abrasiert. (siehe Szizze) Gegen Ende meines Aufenthaltes wurden die hinteren Haare gekürzt.

4.4.2 Rolle in der Familie

Kolochon ist ein aufgewecktes, ungefähr 10 Jahre altes Mädchen. Im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester Yendite machte sie alles mit einem Lächeln im Gesicht. Bei ihren Arbeiten sang sie oft oder lachte einfach nur mit ihren leuchtenden Augen die Menschen in ihrer Umgebung an. Vermutlich war dies so, da sie noch relativ jung war. Sie ist die jüngste Tochter Nakwas. Solange Yendite noch im Haus wohnt, lastet auf Kolochons Schultern noch nicht so viel Verantwortung. Vor allem Yendite wurde von ihren Eltern intensiv auf das Leben in einer Ehegemeinschaft vorbereitet. Dies führt dazu, dass weniger von Kolochon erwartet wurde.

Dadurch, dass Kolochon nicht mit allen Arbeiten beauftragt wurde, hatte sie stets noch Zeit, um mit ihren jüngeren Geschwistern Späße zu machen. Besonders die Jüngsten litten häufig darunter. So verängstigte sie den kleinen Arba Nech, indem sie ihm Gefahren von allen möglichen Seiten einredete. Aber auch ihre ältere Schwester blieb nicht davon verschont. Bevor Yendite nach Jinka reiste, brachte Kolochon sie mit ihrer Angstmacherei zum Weinen. Darüber lachte Kolochon laut und forderte von mir eine ähnliche Reaktion. Diese Art mit ihren Geschwistern zu spielen beschränkte sie allerdings größtenteils auf die Kinder ihrer leiblichen Mutter.

15 Yenite kam mit ihren Eltern nach Jinka um an dem interkulturellen Workshop „The Pride and the 23

Die kleinen Töchter Kidoas blieben von ihren Neckereien verschont. Die Kinder ihrer biologischen Mutter bildeten ein Umfeld, in dem Kolochon sich freier und ungezwungener verhalten konnte als im Umgang mit anderen Kindern. Dies könnte daran liegen, da die Kinder der Zweitfrau junge Töchter und die Kinder ihrer Mutter Söhne oder eine ältere Schwester sind. Mit Kidoas kleinen Töchtern ging sie behutsamer um, als mit ihren Brüdern und Yendite.

4.4.3 Beziehung zu mir

Auch mit mir ging Kolochon sehr spielerisch um. Wirklich ernst zu nehmen schien sie meine Anwesenheit oder meine Arbeit nie. Sie machte sich stets darüber lustig, dass ich die Sprache der Dassanetch nicht beherschte. Über die ganzen fünf Wochen hinweg wollte sie mir das Wort für meinen Wasserkanister beibringen. In meinen Ohren klang das Wort, welches sie mir sagte, stets gleich und zwar genauso wie ich es wiederholte: lamp-lap. Sie wiederholte es unzählige Male und sah mir dabei mit ihren lachenden Augen ins Gesicht. Ich wiederholte es jedes Mal. In ungefähr 98% der Fälle schüttelte sie lachend ihren Kopf und verlangte, ich solle es noch einmal sagen. In den anderen Fällen warf sie ihren Kopf ein klein wenig nach hinten und schloss dabei die Augen, was „Ja, richtig!“ hieß. Von diesem Spiel schien sie niemals genug zu bekommen.

Des Weiteren machte sie oft Scherze darüber, dass ich das Alltagsgeschehen im Dorf filmte. Sie nahm eine Plastiktasse ohne Boden und benutze sie so, wie ich meine Kamera benutze. Abends bei den Tänzen hinter dem Dorf war sie die Einzige die mich zum Mittanzen aufforderte. Als sie ging um im Feld bei der Ernte zu helfen, vermisste ich schnell ihre spielerische Art. Bei meinem Besuch im Feld merkte ich sofort, dass sie auch hier ihre unbefangene Umgangsweise in keiner Weise verloren ging. Sie rannte durch die Felder, brach hier und da Hirse ab und warf sie auf andere.

In meinen Augen genoss Kolochon wie kein anderes Familienmitglied ihre soziale Rolle. Sie hatte genügend Freiraum um zu spielen und andere zu ärgern. Gewisse Arbeiten erfüllte sie, jedoch offensichtlich nie ohne ihre Freude zu verlieren. Als sie einmal beim Hirsemahlen müde aussah, fragte ich sie ob sie denn jetzt müde sei. Daraufhin lachte sie, mahlte noch schneller und sagte „Du hast wohl Hunger?“.

social worthiness of women in South Omo“ teilzunehmen.

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4.5. Willie (Sohn Nakwas, ca.7 Jahre) 4.5.1 Äußeres Erschienungsbild

Wie nahezu alle Jungen in seinem Alter trug Willie keine Kleidungstücke. Lediglich um seinen Arm trug er einige silberne Armreifen. Hervorzuheben ist seine für Jungen seines Alter typische Frisur: Auf der vorderen Seite seines Kopfes hatte er einen runden Haarbüschel von ungefähr 3 cm Durchmesser. Auf dem hinteren Teil des Kopfes trug er einen länglichen Haarstreifen, der beinahe von einem Ohr zum anderen reichte und in der Mitte ca. 2-3 cm dick war. (siehe Skizze a) Jüngere Jungen tragen meist einen ähnlichen vorderen Haarbüschel aber einen anderen hinteren Haarschnitt: der hintere Teil ist im Falle von jüngeren Jungen gestaltet, wie der vordere Teil. (siehe Skizze b). Ein Beispiel für den Haarschnitt von den jüngeren Jungen ist Willies kleinerer Bruder Ankoi (ca. 5 Jahre alt). Aber auch der kleinste in der Familie, Arba Nech (ca. 2 Jahre alt) trug einen solchen Haarschnitt.

4.5.2 Verhalten in der Familie

Willie erhielt seinen Namen von einem Mitarbeiter einer Missionsfarm. Willie ist ein sehr selbstbewusster und frecher nigen (Junge). Ich möchte ihn als ein Beispiel für die Freiheiten heranziehen, welche vielen Kindern in Dassanetch gewährt wird.

Folgende Situation ereignete sich an einem besonders heißen Tag in Nakwas Haus: Nyabba ging nach dem morgendlichen Kaffee nach Omorate. Das Haus war ruhig. In dem Haus waren Nakwa, Ankoi, Willie, Peggy, Oscar, Mammu16 und ich. Es war eine Phase des Ausruhens. Ich filmte ein paar Gegenstände des Hauses. Als ich meine Kamera in Willies Richtung bewegte sagte er17:

Willie: „Ich will nicht, dass er mich filmt.“

Seine Mutter Nakwa reagierte:

16 Mammu ist ungefähr 17 Jahre alt. Er wohnt mit seiner Frau und seinem Kind in Kenya und besuchte für ein paar Tage Verwandte in Aoga.
17 Ich gebe das Gespräch sinngemäß wider (gemäß der Dokumentation auf MiniDV).

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Nakwa: Willie: Nakwa: Willie: Nakwa: Willie:

Nakwa: Willie:

„Warum nicht, er hat dich doch schon häufig gefilmt.“
„Sei Du ruhig. Ich muss nicht machen, was du mir sagst.“
„Warum musst Du nicht?“
„Ich bin alt genug um allein zurechtzukommen.“
„Du würdest verhungern, wie ein Tier im Busch.“
„Sei ruhig! Verschwinde! Verlasse das Haus meines Vaters! Du hast hier nichts mehr zu sagen!“
„Du würdest nicht überleben.“
„Zusammen mit Yendite schaffe ich die Arbeiten im Haus. Geh! Ich weiß wo das Gewehr meines Vaters ist. Geh!“

Dies sagte Willie in einem sehr ruhigen Ton. Nakwa lachte darüber. Ich war überrascht und schockiert über Willies Äußerungen. Im Anschluss fragte ich Nakwa, wie sie über das denkt, was er ihr gesagt hat. Sie meinte, dass sie Willie gut kenne. Er spielt immer so18. Die Frage, ob sie sein Verhalten gut findet, bejahte sie, da er später ein starker Mann werden würde.

Dies ist nur ein Beispiel für das Verhalten Willies seiner Mutter gegenüber, welches ich beobachten konnte. Jedoch gab es unzählige ähnliche Gelegenheiten in denen er mit allen Geschwistern und den beiden Müttern derartig umsprang. Auch mir gegenüber verhielt er sich ähnlich. Er drohte mir oft, dass er mich umbringen werde oder sagte mir, dass ich hier nichts verloren hätte. Von niemanden schien er sich etwas vorschreiben zu lassen. Einmal versetzte er die ganze Familie (und mich) in Sorge, als er abends einfach nicht nach Hause kam. Wir suchten ihn stundenlang. Dann am nächsten Morgen erfuhr ich, dass er spät in der Nacht nach Hause gekommen ist. Er war bei einem Fest bei seinem Freund geblieben. Bestrafung für die verursachte Panik schien er nicht bekommen zu haben.

5. Aufwachsen bei den Dassanetch

Thematisch hat mich während meiner Feldforschung vor allem die Interaktion der Mitglieder meiner Gastfamilie untereinander interessiert. Immer wieder war ich überrascht über den großen Freiraum welcher den Kindern der Familie gewährt

18 Oscar Ode übersetzte ihre Aussage: He always plays like that.

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wurde. Vor allem Willies, Kolochons und Noichos Verhalten zeigte mir, dass ihre Eltern viel Nachsicht mit ihren Kindern hatten. Dies ging häufig so weit, dass die Kinder es sich leisten konnten, ungestraft Arbeit zu verweigern oder ihre Mütter zu beschimpfen und ihnen sogar zu drohen. Oft passierte es, dass Nakwa oder Kidoa eines ihrer Kinder zu einer bestimmten Arbeit aufforderte. Und häufig passierte als Reaktion gar nichts. Kolochon antwortete einmal ihrer Mutter: „Ich habe keine Lust“ und lachte mir dabei zu. Willie antwortete einmal „Jetzt ist keiner da, der mir beim Holzholen helfen kann.“ Daraufhin ging Kidoa selbst alleine Holz holen.

Als Willie seiner Mutter drohte und sie verjagen wollte fragte ich sie, ob er ein guter Junge sei. Nakwa sagte, es sei gut, dass Willie so spielte. Schon früh werden die Jungen darauf vorbereitet, später den sich durchsetzenden Teil der Familie zu spielen. Der Unterschied zu Familien anderer, in der Region lebenden Ethnien ist meines Erachtens das soziale Umfeld, in welchem die Jungen sich derartig erproben können. Ich hatte bei meinen Besuchen in verschiedenen Hamargehöften den Eindruck, dass es für die meisten Kinder ein Tabu ist, ihre Eltern derartig zu behandeln. In meiner Gastfamilie verhielten sich die Kinder in meinen Augen oft vorlaut. Vor allem Noicho, Kolochon und Willie drohten häufig ihren Müttern mit Schlägen oder beschimpften sie. Meistens reagierten die Mütter darauf mit einem Lächeln oder ignorierten es. Auf Nachfragen äußerten sich beide Mütter dahingehend, dass dieses Verhalten normal sei. Vor allem die drei erwähnten Kinder wurden erst spät und dann auf ruhige Art dazu aufgefordert, jetzt ihr Verhalten zu ändern. Nakwa und Kidoa schienen diese Erziehungsmaßnahme erst dann einzuleiten, wenn sie nicht mehr über die Neckereien der Kinder lachen konnten und es anfing sie zu nerven. Nyabba musste seine Kinder kaum zur Ruhe bringen, da sie sich in seiner Gegenwart nicht so ausgelassen verhielten. Natürlich bin ich mir bewusst, dass das beschriebene Verhalten nicht für alle Dassanetchfamilien repräsentativ sein muss. Ich konnte jedoch auch in anderen Häusern in Aoga vergleichbare Verhaltensweisen von Kindern miterleben.

Nicht bei allen Kindern in meiner Familie konnte ich derartiges Verhalten beobachten. Weder Loichama noch Yendite sah ich, wie sie ihre Mütter schlagen wollen. Auch ihre Wortwahl ihnen gegenüber schien vernünftiger zu sein. Dieses Verhalten lässt sich sicherlich zum Teil auf ihr biologisches und auch soziales Alter zurückführen. Als die ältesten, im Elternhaus lebenden Kinder wurde ihnen bereits große Verantwortung in der Haushaltsführung übertragen. Loichama hielt sich ohne

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direkte Geschwister oder seine Eltern in den Feldern auf. Yendite wurden viele Aufgaben innerhalb des Dorfes übertragen. Nicht nur ihre Eltern forderten sie auf bei alltäglichen Arbeiten behilflich zu sein, häufig half sie auch anderen Dorfbewohnern. Beide beginnen dadurch in die Rolle der Erwachsenen hineinzuwachsen.

Ein auffallendes Verhalten der erwachsenen Frauen und vor allem der Männer in Aoga war ihr würdevolles Auftreten. In Nyabbas Art zu Gehen oder zu Stehen drückt er viel Stolz und Vernunft aus. So intensiv wie die meisten Kinder meiner Gastfamilie ihre Grenzen in alle Richtungen erproben, so intensiv zeigte Nyabba (und viele andere Erwachsene) ein gleichbleibendes, ruhiges Verhalten. Mit ebensolcher Ruhe dulden die Erwachsenen das lebhafte Erproben der Kinder.

Bei den jüngsten Kindern meiner Gastfamilie beobachtete ich, dass sie interessiert das Verhalten ihrer Geschwister nachahmten. Der kleine Arba Nech drohte bereits seinen Geschwistern auf ähnliche Weise, wie seine größeren Geschwister. Und auch Ankoi war gegenüber anderen Kindern nicht immer zurückhaltend. Jedoch sah ich keinen Fall, in welchem sie ihren Müttern drohten. Ich kann mir jedoch gut vorstellen, dass sie dies später übernehmen werden. Es ist anzunehmen, dass die beiden Älteren, Yendite und Loichama, das ausfallende Verhalten ähnlich ausgeübt haben, als sie noch jünger waren. Innerhalb meiner Gastfamilie scheint sich ein Muster abzuzeichnen, wonach die Kinder, welche noch nicht mit übermäßig vielen Aufgaben beschäftigt sind, sich häufiger frech ihren Müttern gegenüber verhalten. Ich vermute, dass auch dieses Verhalten dazu führt, dass von ihnen Schritt für Schritt mehr Arbeiten erwartet werden. Vielleicht ist dies von den Kindern irgendwie beabsichtigt. Kurzfristige Reaktionen der Mütter auf freches Verhalten fanden, wie bereits erwähnt nur sehr selten statt. Vielleicht wollen die Kinder mit ihren Provokationen den Müttern indirekt zeigen, dass sie soweit sind, ähnliche Aufgaben zu übernehmen, wie sie ihre größeren Geschwister bereits erledigen. Ob ein solcher Prozess mit versteckten Intentionen und gespieltem Theater von mir imaginiert ist, oder ob es etwas Reales widerspiegelt, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.

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Schlussbemerkung

Vorliegende Arbeit basiert vor allem auf einem fünfwöchigen Aufenthalt in Aoga, Dassanetch. Ziel der Arbeit war es, neben einer kurzen Beschreibung des Lebensraumes eine Darstellung über meine Gastfamilie zu liefern. Dafür habe ich Personen ausgewählt, die in meinen Augen besonders dazu geeignet sind Rückschlüsse auf spezielle Rollen in der Familie deutlich werden zu lassen. Ich bin besonders auf die Eltern und deren ältesten Kinder eingegangen und habe versucht anhand von nacherzählten Beobachtungen und interpretativen Gedanken einen Teil der sozialen Rollen, welche in Dassanetch anzutreffen sind, zu vermitteln. Dabei war es Ziel der Arbeit, nicht über abstrakte Rollen zu berichten, sondern anhand von Alltagsgeschehen diese Rollen lebhaft darzustellen.

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Anhang 1 Vokabular

abuni adda ash!
bil barua bil gerre

bil lokol

dumba
durrum
ilu
kara
kurrum lamp-lap
less dassanetch nigen

nono nyado nyewolu nyirin rubba sherr silla wuluf

hinterer Teil des Mädchenrockes unverheiratetes Mädchen
Hör auf!
Haus für ältere Ehefrauen Hausinnere (wörtl: Bauch des Hauses)

Grashaus von jungverheirateten Frauen
Kautabak
Milchgefäß

Stöcke zum Hausbau Kopfstütze Milchgefäß Wasserkanister

Land der Dassanetch Junge
Schränke, Transporthilfen Hirsebrei

Buschmesser
Neugeborenes
Hirse
Hüteinstrument von Jungen vorderer Teil des Mädchenrockes Wurzel zur Reinigung von Wasser

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Literatur

Almagor, Uri
1978. Pastoral Partners. Affinity and bond partnership among the Dassanetch of Southwest Ethiopia. Manchester: Manchester University Press.

Tosco, Mauro
2001. The Dhassanac language: grammar, texts and vocabulary of a Cushitic language of Ethiopia. Köln: Köppe

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